Die unglaubliche Dummheit der Werbeindustrie

Die Werbeindustrie ist in einer Krise. Immer mehr Menschen ignorieren sie, schalten sie weg oder blenden sie aus. Und je mehr das passiert, desto weniger will die Werbung akzeptieren, dass sich jemand nicht für sie interessiert. Aber anstatt sich auf die Menschen einzustellen verhält sie sich, wie ein angesoffener Rüpel. Sie wird impertinent: immer lauter, immer aufdringlicher und immer nerviger. Das ist dumm und schlimm. Dabei gibt es Alternativen.

Man stelle sich eine Frau vor, die in ein Café kommt. Nennen wir sie Stefanie. Stefanie ist gut gelaunt, will nur einen Kaffee trinken, etwas online gehen, Facebook checken und so. Das Café hat freies WiFi und sie will nach einem harten Tag schauen, was es in der Welt neues gibt. Sie bestellt ihren Kaffee, setzt sich gemütlich hin und beginnt das Surfen… Und dann kommt er. Er setzt sich direkt an den Tisch neben sie. Sie checkt ihn kurz ab aber schenkt ihm dann keine weitere Beachtung… nicht ihr Typ. Er will ihre Aufmerksamkeit, zischt ein kurzes „ks, ks“.

Sie reagiert nicht. Dann ein „Hey!“. Stefanie reagiert immer noch nicht. Dann noch lauter: „Hey, Baby, guck doch mal!“. Stefanie schaut auf, lächelt etwas gequält, schaut denn wieder auf ihr Tablet und dreht sich ein Stück weg. Sie will ihn nicht zurückweisen, aber ihre Körpersprache ist deutlich. Nur: Er lässt nicht locker. Er wird immer eindeutiger. Er will nicht nur nett sein, ihr eine Freude machen – er will etwas von ihr. Ganz konkret. Und das wird Stefanie langsam unangenehm. Sie dreht sich ganz weg von ihm, sie will ihn immer noch nicht vor dem Kopf stoßen. Erfolglos.

Schließlich steht sie auf und geht an einen anderen Tisch. Weg von ihm. Aber ihn interessiert das gar nicht. Er verfolgt sie, geht zu ihrem Tisch, setzt sich vor sie hin, stößt sie an. Als sie ihm deutlich sagt, dass sie kein Interesse an ihm hat, macht er sie blöd an, dass er ja wohl ein Recht dazu habe, immerhin gibt es in dem Café ja freies WiFi, und er würde das ja sponsorn… Als sie hilfesuchend zum Cafébesitzer schaut, dreht der sich weg. Er schützt seinen Gast nicht. Er muss ja auch von was leben, sagt er. Und mit dem Rüpel macht er eben den meisten Umsatz…

Werbeangebot mit redaktionellen Einblendungen

Und irgendwie ist das genau so mit dieser „Werbeanzeige“ unten. Und dem immer gleichen Pop-Up das bei jeder Seite erneut aufpoppt. Und das Retargeting, dass mir sogar bis auf die Toilette folgen würde. Die Seite von Spiegel online wird immer mehr zu einem Werbeangebot mit redaktionellen Einblendungen. Das ist laut, das schreit mich an. Es zwingt mich zur Aufmerksamkeit, es ist impertinent, aufdringlich und unverschämt. Und ich habe keine Chance, ihm zu entgehen. Ja, Spiegel online muss auch von was leben. Und ich verstehe das auch. Aber ich bin eben auch Gast. Und irgendwo hat das Grenzen.

„Werbeangebot mit redaktionellen Einblendungen“

Vor allem: ich mag Werbung eigentlich gerne. Sie interessiert mich, sie macht mir oft Freude. Ich lasse mich gerne anregen, und ich kaufe auch gerne ein. Ich bin Gott sei Dank auch nicht arm, ich kann also hier und da auch etwas spontan kaufen. Also eigentlich bin ich der Traum der Werbeindustrie. Aber ich bin auch kein Idiot. Ich weiß, was mich interessiert und was nicht. Und ich will, dass sie mein „Nein“ akzeptiert. Wie Stefanie: an einem anderen Tag und mit einer anderen Art hätte sie vielleicht mit dem Typen geredet. Und vielleicht hätte sie sich getäuscht und er ist doch nett. Aber nach der Aktion?

Verhalten von besoffenen Rüpeln mit Testosteron-Schub

Die Werbeindustrie verhält sich wie ein besoffener Rüpel, der Frauen anquatscht und einfach deren Desinteresse ignoriert – vor allem online. Anstatt zu akzeptieren, dass sie sich nicht für ihn interessiert, wird er immer aufdringlicher, immer aktiver, macht sich immer größer, schreit sie regelrecht an. Der besoffene Rüpel hat eine Entschuldigung: Der Alkohol hat wohl alle seine Sinne vernebelt, seine soziale Kompetenz ist auf Null gesunken, seine empathischen Fähigkeiten sind ausgeschaltet und der alkoholbedingte Testosteronschub sorgt für den Rest. Aber die Werbeindustrie hat diese Entschuldigung nicht.

„Werbung verhält sich oft wie ein besoffener Rüpel, der Frauen anbaggert“Mirko Lange

X, vormals Twitter

Die machen das absichtlich. Wie dumm muss man sein, dass man denkt, man könnte Jemandes Interesse wecken, indem man ihn anschreit? Nein, kann man nicht. Im Gegenteil. Irgendwann steht die Frau auf und schlägt dem Rüpel entweder ins Gesicht oder schüttet ihm ihr Glas über die Visage. Zu Recht. Na ja, oder installiert einen Rüpel-Blocker. Den gibt es zwar im echten Leben nicht – online aber schon.

Aber die Medien müssen doch auch von etwas leben!

Und jetzt kann man fragen: Ist das denn lauter? Darf man das? Immerhin müssen die Medien ja auch von etwas leben. Oder anders gesagt: Wenn die Frau schon das kostenlose WiFi nutzt, dann muss sie auch Werbung akzeptieren. Ja, das ist fair. „Werbung akzeptieren“. Aber sich von Rüpeln anpöbeln lassen? Nehmen Medien und die Werbeindustrie die Realitäten nicht wahr? Gibt es heute noch jemanden der nicht innerhalb von 2 Sekunden im Fernsehen wegzappt, wenn der Werbeblock kommt? Oder noch schneller? Das funktioniert nicht. Es macht keinen, aber auch gar keinen Sinn, dem Leser „auf die Eier zu gehen“. Wenn er sich nicht interessiert, dann nützt alles anschreien nichts. 

Werbung muss lernen zu erkennen, wann jemand nicht interessiert ist – und das dann akzeptieren!Mirko Lange

X, vormals Twitter

Also die einfachste Lösung wäre, unaufdringlichere Werbung zu schalten. Facebook macht das ganz gut. Sie ist da. Sie stört nicht wirklich – und trotzdem fällt sie mir hin und wieder auf, dann nehme ich sie auch wahr, und dann klicke ich auch mal drauf. So funktioniert das Gehirn. Das nennt man selektive Wahrnehmung. Und warum bieten mir die Medien nicht ganz einfach die Möglichkeit, Werbung zu bewerten? Facebook macht es ja auch hier vor. Das geht so weit, dass ich anklicken kann, dass ich diese bestimmte Werbung gar nicht mehr sehen will. Oder warum bietet Spiegel Online nicht ein Freemium Modell? Ich zahle gerne ein paar Euro dafür, wenn ich auf spiegel.de Beiträge ohne Werbung sehen kann.

Was sind die Alternativen?

Die Alternative ist, dass die Medien anfangen, ihre Leser zu verstehen. Dass die Medien anfangen, das Interesse des Users zu antizipieren. Ihm also nur intelligent das zu zeigen, was ihn interessiert. Facebook hat da schon ganz gute Ansätze. Noch lange nicht perfekt, aber sie bemühen sich. Ich persönlich bin auch gerne bereit, meine Daten dafür zu Verfügung zu stellen, dass ich nur noch Werbeangebote bekomme, die mich interessieren. Das ist auch der einzig gangbare Weg – denn nie im Leben wird mich z.B. Mini dazu bekommen, einen Mini zu kaufen. Da können die mich „anschreien“, so lange sie wollen. Der einzige Effekt ist, dass ich irgendwann auch keinen BMW kaufen werden, auch Rache sozusagen, obwohl BMW eigentlich gut zu mir passen würde. Aber ich will nichts mit solchen Rüpeln zu tun haben. Dafür sind die nicht mehr besonders genug.

Curved.de
Buzzfeed

Es gibt schon gute Beispiele

Aber es gibt je heute schon gute Beispiel. Curved.de macht es zum Beispiel recht clever. Das ist die „Native Advertising Plattform“ von E-Plus. Könnte man sagen. Also E-Plus finanziert die Plattform, sie sieht unabhängig aus, alles ist redaktionell, und die Werbung ist clever eingebaut. Curved berichtet über Produkte, und unterhalb der Produkte gibt es dann einen Kasten „in diesem Artikel besprochene Produkte“. Das sieht auch noch nicht nach Werbung aus – und wird nebenbei gesagt auch nicht vom Adblocker geblockt. Und wenn man dann auf das Produkt klickt geht ein Pop-Up auf, wo man dann einen Link zu einem E-Plus-Shop findet. Ähnlich macht das Techlab, ein Video-Magazin von Saturn Hansa. Das Prinzip ist das Gleiche: Ein neutrales, redaktionelles Angebot (im „YouTuber-Stil“), in dem unter anderem Produkte vorgestellt werden, und in der Beschreibung ist ein Link zu einem Shop.

Mini USA zeigt, wie es auch geht!

Oder noch ein Beispiel ist Buzzfeed, bei dem es interessanterweise gerade Mini richtig macht: Sie haben einen eigenen Kanal – auch wieder mit redaktionellen Inhalten – und da geht es nicht um die Produkte, sondern um Themen. „Around product, nicht about product“, wie Brian Solis immer sagt. Das Thema ist #mininotnormal, es geht um „not normal“ und Mini zeigt dort z.B. „Die 14 schönsten Straßen der Welt„. Das ist richtig guter Content. Das interessiert, das macht Spaß sich anzuschauen, und das ist auch nach an der Marke Mini. Es transportiert das Erleben, was man mit einem Mini haben soll. Und unten drunter ist ein Werbevideo. Unten drunter. Wenn also die Leute vorbereitet sind. In dem oben genannten Artikel ist das Video 700.000 Mal angeklickt worden. In 7 Monaten. Also 100.000 Mal im Monat. Das ist nicht riesig. Nicht im Vergleich zu der „Reichweite“, die ein Werbebanner erzeugt. Aber alle die sich das Video angeschaut haben, sind dann auch interessiert. Und unterhalb des Videos ist dann der Link zur Markenseite von Mini.

P.S.

Ich habe mitbekommen, dass manche Leute die Headline so verstehen, als ob ich sagte, die ganze Werbeindustrie sei dumm. Das ist nicht der Fall. Ich will sagen: Das Phänomen, das ich hier beschreibe, dass Werbung also so aufdringlich und impertinent daherkommt, ist eine Dummheit (der Werbeindustrie). Als Beleg dafür mag gelten, dass ich explizit (mehrfach) sage, dass ich Werbung gut und wichtig finde.

Der Autor

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Mirko Lange

Gründer Scompler

Mirko Lange ist seit 27 Jahren Kommunikations-Berater und seit 2001 Dozent an mehreren Hochschulen. Er hatte ab 1999 eine der ersten Beratungsunternehmen für Online-PR in Deutschland und hatte sich ab dem Jahr 2008 einen Namen als erster Spezialist für Unternehmenskommunikation im Social Web gemacht. Hier hat er in den Jahren 2010 ff. unter anderem die Deutsche Bahn („Facebook-Ticket“) und Nestlé („Kitkat“) in der Krisenkommunikation beraten, über welche die ersten „Shitstorms“ in Deutschland hinwegzogen. In der Folge hat zum Beispiel die Deutsche Bahn ihre komplette Kommunikation auf das Social Web ausgerichtet, diesen Prozess hat Lange begleitet. Aus diesem Projekt entstand die Kommunikationsmanagement-Software Scompler. Scompler hat inzwischen mehr als 300 Kunden, unter ihnen 6 DAX-Unternehmen.